Damals dachte man, dass… (Teil 1)

„Erzähl mir von Früher!“ Mein Ur-Enkel klettert auf meinen Schoß und lässt keinen Zweifel daran, dass es jetzt Zeit ist für Kuscheln und Geschichten erzählen. Ich kann oft mein Glück gar nicht fassen, dass ich inmitten meiner Familie alt werden darf, und selbst jetzt noch, im gesegneten Alter von fast 100 Jahren gebraucht werde und meine Aufgaben habe.

Im Moment ist meine Aufgabe also mein kleiner Ur-Enkel, der eine Geschichte einfordert. Angeblich kann niemand so schöne Geschichten von früher erzählen, wie ich. Naja, wie auch. Ich bin ja schließlich die Älteste in unserer schönen Wohngemeinschaft, und kann dadurch auf viele vergangene Jahre zurückblicken.

Ich weiß noch, wie ich als Kind meinem Opa immer gespannt an den Lippen hing, wenn er von seiner Jugend im zweiten Weltkrieg erzählte, oder davon, wie er meine Oma kennengelernt hatte.

Und jetzt sitze ich hier und erzähle meine alten Geschichten. Ich bin mittlerweile schon ein ganzes Stück älter als alle meine Großeltern geworden sind. Natürlich bin ich mit meinen 100 Jahren nicht mehr ganz so fit und beweglich. Natürlich tut mir jeden Tag was anderes weh, und mit dem Yoga klappt es nur noch recht spärlich. Natürlich möchte ich aber trotzdem mein Leben noch genießen, mache jeden Tag ein paar leichte, wenn auch schiefe und krumme Übungen, passe auf meine Ur-Enkelchen auf, und erzähle Geschichten. Dafür hat man ja die Alten. Damit einfach immer jemand da ist, mit dem man reden, und von dessen oder deren Lebenserfahrung die Gemeinschaft profitieren kann. Heute weiß man auch, dass Gemeinschaften das beste Mittel gegen Demenzerkrankungen sind. Früher dachte man, dass es dagegen Medikamente geben müsse, heute weiß man, dass es einfach nur soziale und physische Kontakte sind.

Eine ganze Zeit lang, ich kann mich noch gut erinnern, war man bestrebt, alle Alten in speziellen „Heimen“ unterzubringen. Genauso die besonderen Menschen, die wir heute so schätzen, weil sie das Leben aus ganz anderen Perspektiven sehen, und dadurch auf ihre Weise eine so große Bereicherung sind. Auch die wurden in speziellen „Einrichtungen“ untergebracht. Damals dachte man, dass das für die Besonderen das Beste wäre, wenn sie unter sich blieben und gefördert werden.

Heute weiß man, dass sie uns fördern, und nicht umgekehrt.

„Was für eine Geschichte möchtest Du denn hören? Eine gruselige, eine schöne, eine traurige, eine Lustige,…?“ Mein Enkelkind weiß natürlich, dass es aus jeder Episode der Menschheit immer gute und schlechte Geschichten gibt. Und manchmal möchte er sich wirklich ungläubig mit offenem Mund ein paar (natürlich kindgerecht abgeschwächte) gruselige oder traurige Geschichten anhören.

Er denkt kurz nach. „Eine über Technik!“ ruft er begeistert. Technik – eines meiner Lieblingsthemen. Manchmal, das gebe ich zu, gerate ich dabei ein bisschen ins Schwadronieren und gehe damit allen ein kleines bisschen auf die Nerven, wenn ich von alten Computerspielen und Telefonen erzähle, davon, wie kompliziert das damals war, und dass wir die Pioniere von Hologrammen und Quantentechniken waren. Jaja Oma, sagen sie dann. Das haben wir alles schon hundert Mal gehört.

Aber Urenkelchen ist ja erst 5, der hat noch nicht so viele Wiederholungen mitbekommen. Und er ist, wie so viele Kinder in dem Alter, zum einen begeistert von allem, was technisch ist, und zum anderen von Geschichten. Also kann ich jetzt meinen Erinnerungen freien Lauf, und ihn daran teilhaben lassen!

„Also, als ich klein war, gab es eigentlich noch überhaupt keine entwickelte Technik. Wir hatten zwar überall Strom, aber nur für Licht (in Glühbirnen! wie waren echte Energieverschwender), Herd, Radio und solche Sachen. Echte vernetzte Kommunikation gab es damals kaum. In meiner Jugend hatte zumindest jeder Haushalt schon ein Telefon, als meine Eltern jung waren, war sogar das noch nicht mal der Fall.“ Mein Enkel lauscht aufmerksam.

„Und wir wussten auch alle nicht sonderlich viel. Das meiste Wissen, das man so hatte, kam aus der Schule. Wir hatten zwar Bibliotheken, aber die waren nur voller Bücher, es gab weder Internet, noch Suchmaschinen. Wenn Du was wissen wolltest, musstest Du entweder mühsam nachschlagen und nachlesen, oder Du hast die Frage einfach wieder vergessen. Und aus dem Rest der Welt, das musst Du Dir vorstellen, haben wir eigentlich gar nichts gewusst. Ein bisschen Erdkunde in der Schule, mal ein Urlaub in Italien oder ein Schüleraustausch. Aber das war wirklich sehr punktuell.“

„Und wenn Du wissen wolltest, was woanders auf der Welt los ist? Oder wie es da aussieht?“ fragt mich das Enkelchen. „Weißt Du,“ antworte ich, „ich glaube, das ist uns gar nicht so sehr in den Sinn gekommen. Oder nur selten. Und wenn, dann musstest Du eben da hinfliegen, und entweder Urlaub machen, oder wenn Du ganz mutig warst, dort eine Zeit lang leben und arbeiten.“ – „Das kann man doch heute auch, woanders leben und arbeiten. Die Tante Aria ist sogar im Urwald!“ Ja, das stimmt. Meine Enkelin forscht irgendwo im Urwald. Den hätte es auch fast nicht mehr gegeben, wenn die Menschheit nicht ihren Kurs irgendwann so radikal geändert hätte.

Früher dachte man, dass Geld das Allerwichtigste ist. Dafür wurden Tiere gequält, Wälder gerodet, Ozeane verdreckt, Menschen ausgebeutet. Fast hätten wir unsere Welt vernichtet. Aber das erzähle ich dem Zwerg auf meinem Schoß heute nicht. Er wollte keine Gruselgeschichte.

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